Wissen ist die Wurzel jeder spirituellen Aktivität

    Alexander Zeugin

    Saṃvara [Teil 646]

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    STHAVIRAVALĪ [41 von ]

    GAṆADHARA GAUTAMA UND ĀṆANDA ŚRĀVAKA[1]

    Von den Śrāvaks[2] mit den vorgeschriebenen Gelübden erlangen diejenigen, die durch sorgfältiges Befolgen ihrer angenommenen Gelübde immer höher aufsteigen, manchmal avadhi-jñāna (visuelles Wissen). Obwohl die zehn wichtigsten śrāvakas von Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra die Reihe der elf pratimās (für Laien geeignete Stufen der Spiritualität) sorgfältig befolgten und sehr strenge Askese praktizierten, erlangten nur zwei von ihnen, nämlich Āṇanda Śrāvaka und Mahāśatakajī, avadhi-jñāna (visuelles Wissen).

    Āṇandajī hielt seine Gelübde vierzehn Jahre lang mit großer Hingabe ein, verehrte Bilder von Jinéśvara Paramātmās, den erhabensten Herren der Jainas, und praktizierte ausgedehntes Fasten und andere religiöse Zeremonien. Mit dem Beginn des fünfzehnten Jahres lud Āṇandajī, der eifrig die Reihe der Elf pratimās (Stufen der spirituellen Entwicklung für śrāvakas)[3] einhalten wollte, seine Kastenangehörigen, Verwandten und Freunde herzlich ein und hieß sie mit ausgezeichneten Abendessen willkommen. Dann ernannte er in ihrer Anwesenheit seinen ältesten Sohn zum Oberhaupt seiner Familie und ging mit der Erlaubnis seiner Familienmitglieder und Freunde zum Kloster in Kollāka Sannivéśa, dem Vorort Kollāka im Dorf Vāṇijjasa. Aṇandajī wischte den Boden sauber und untersuchte die Stelle sorgfältig auf Urin- und Stuhlgänge, um sich zu vergewissern, dass sie völlig frei von kleinen Tierchen und Ungeziefer war. Dann begann Āṇandajī auf einer Sitzfläche aus trockenem Gras sitzend mit dem ersten pratimā für śrāvakas,[4] wobei er andächtig die verschiedenen in den Heiligen Schriften erwähnten religiösen Zeremonien befolgte und im Laufe der Zeit die Elf Stufen der spirituellen Entwicklung abschloss.[5]

    Obwohl sein Körper durch ständiges Fasten und strenge Buße stark abgemagert war, hielt Āṇanda Śrāvaka seine Gelübde stets mit großer Hingabe und zunehmender Aufrichtigkeit ein. Aufgrund stetigen Fleißes und der Zerstörung von jñānāvaraṇīya Karma (das Wissenverdunkelnde Karma) erlangte Āṇanda Śrāvaka eines Tages avadhi-jñāna.

    Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra kam zufällig in die Nähe des Dorfes. Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama ging im dritten Viertel des Tages mit der Erlaubnis des Herrn ins Dorf und bettelte um Essen. Nachdem er von den Leuten die Geschichte von Āṇanda Śrāvaka gehört hatte, ging er zu dem Ort, wo Āṇanda Śrāvaka lebte. Als er Gaṇadhara Mahārāja Gautama Swāmī auf sich zukommen sah, war er hocherfreut und verneigte sich tief vor ihm. Āṇanda Śrāvaka sagte flehend: „Mein Herr! Mein Körper ist durch die strenge Askese sehr ausgezehrt und deshalb konnte ich nicht zu dir kommen. Es wird Ihnen gefallen, etwas näher zu kommen.“ Mit diesen Worten verneigte er sich dreimal ehrfürchtig vor Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama und fragte ihn: „O Herr! Kann ein Haushälter während seines häuslichen Lebens avadhi-jñāna, visuelles Wissen, erlangen?“ Gaṇadhara Gautama Swāmī antwortete: „Ja. Das kann er.“

    Der fromme Śrāvaka Āṇandajī wandte sich an Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti und sagte: „Hochachtungsvoller Herr, ich habe avadhi-jñāna, visuelles Wissen, erlangt und kann Objekte bis zu einer Entfernung von fünfhundert yojanas im Osten, Süden und Westen in Richtung Lavaṇa Samudra (Salzmeer) sehen. Außerdem kann ich Objekte bis zum Himavanta Varṣadhara (Berg Himavanta) im Norden, zum Saudharma Dévaloka in der Oberwelt und bis zum Lolucya Narakāvāsa, der Lolucya-Hölle der Ratnaprabhā-Erde in der Unterwelt erkennen und sehen.“

    Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama, ein wenig misstrauisch gegenüber diesen Worten von Āṇanda Śrāvaka, sagte: „Oh, würdiger Mann! Ein Haushälter erlangt avadhi-jñāna, aber sein Sichtbereich ist nicht so groß, deshalb solltest du Buße tun und deine Sünden verachten.“

    Āṇanda Śrāvaka sagte: „Oh Herr! Gibt es in den Heiligen Schriften der Jaina eine Sühne für eine korrekte Erklärung?“ Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama antwortete: „Nein“. Āṇanda Śrāvaka sagte dann respektvoll: „Wenn dies der Fall ist, hast du es verdient, die Sühne zu leisten.“

    Da er einige Zweifel an diesen Worten von Āṇanda Śrāvaka hatte, ging der berühmte Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama zu Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra, verneigte sich tief vor ihm, nachdem er für gelegentliche Sünden, die er während gamanāgamana (Gehen und Kommen) begangen hatte, Buße getan hatte, erzählte er ihm den gesamten Bericht über das avadhi-jñāna von Āṇanda Śrāvaka und sein Gespräch mit ihm zu diesem Thema und fragte ihn: „O Herr! Wer soll Sühne leisten? Ich oder Āṇanda Śrāvaka?“

    Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra antwortete: „Sühne du selbst und bitte Āṇanda Śrāvaka um Vergebung.“

    Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama nahm diese Worte von Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra mit großer Begeisterung an, begab sich sofort zu dem Ort, wo Āṇanda Śrāvaka lebte, und bat ihn um Verzeihung. Gleichzeitig sagte er, dass seine Erklärung (die von Āṇanda Śrāvaka) richtig sei.

    In diesem Zusammenhang muss man zweifellos die extreme Geradlinigkeit und höfliche Gehorsamkeit von Gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama loben, der die Anweisungen von Śramaṇa Bhagavān Mahāvīra strikt befolgte. Allein die Tatsache, dass ein berühmter Mann, der die erhabene Position eines gaṇadhara einnimmt und über zahlreiche labdhis und umfassendes Wissen verfügt, das Haus eines gewöhnlichen Haushälters aufsucht, um ihn um Verzeihung zu bitten, während er die Anweisungen seines Meisters gebührend respektiert, ist ein hinreichender Beweis für die natürliche Geradlinigkeit von gaṇadhara Mahārāja Indrabhūti Gautama. Weise Männer, die das Wohl ihrer Seele erreichen wollen, werden nur dann hoch hinauskommen, wenn sie eine solche Geradlinigkeit erlangen (uttama ārjava).[6] Ānanda ist die höchste Stufe, die ein jainistischer Laie erreicht hat (es gibt in den Schriften seltene Beispiele für diese hohe Stufe eines Laien, z.B. das des Mahāśatakajī)[7] und ist daher die Plattform, auf der sich saṃvara dvāra befindet,[8] um gemäß der Anwendung von Kaṣāya-Pāhuḍa[9] zur sechsten guṇasthāna und höher bis zur siebten oder achten guṇasthāna aufzusteigen.[10]

     

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    [1] Für die Einzelheiten von Ānandas Lebensskizze siehe Saṃvara [Teil 147] ff.

    [2] Für Details in der Bedeutung von śrāvaka oder śrāvikā (männlicher oder weiblicher Hörer der Schriften) auch einer mit rechter Wahrnehmung, Śramaṇopaśaka (upāśaka für Männer und upāśikā für Frauen) = ein Haushälter, der 12 kleinere Gelübde angenommen hat, für weitere Details siehe Saṃvara [Teil 445] Anmerkung 1.

    [3] Für weitere Einzelheiten zu pratimā für den Haushälter siehe Saṃvara [Teil 445] Anmerkung 1.

    [4] Für Einzelheiten zum ersten upāśakapratimā siehe Saṃvara [Teil 179].

    [5] Für das elfte pratimā des śrāvaka (Laien), s. Saṃvara [Teil 170].

    [6] Uttama ārjava , Höchste Geradlinigkeit, ist eines der 10 yatidharmas, die das glänzen der 10 Fussnägel eines sādhū bedeutet. Ein sādhū, der barfuss alleine unterwegs ist, ‘poliert’ diese 10 Tugenden zum höchsten Glanz. Für die 10 yatidharmas, s. Saṃvara [Teil 294] Anmerkung 2.

    [7] Siehe folgenden Beitrag Saṃvara [Teil 647].

    [8] Vgl. Saṃvara [Teil 94] ff.

    [9] Vgl. Saṃvara [Teil 332] ff.

    [10] Vgl. die fortgeschrittene Laienstufe als "jene Plattform" für die Besteigung des Berges Aṣṭāpada in Saṃvara [Teil 604].

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