Wissen ist die Wurzel jeder spirituellen Aktivität

    Alexander Zeugin

    Saṃvara [Teil 329]

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    NYĀYAKUMUDACANDRA (wörtlich: Der Mond [der den] [Nacht-]Lotus derLogik [zum Blühen bringt]) des Digambara Acarya Prabhacandra [5 von 6]

    59. [Die Yāpaṇīya] könnten sagen:

    "Wenn ihr darauf besteht, dass Frauen auch ihre Kleidung ablegen müssen [um die Bettelmönche zu empfangen], dann würden Frauen aus guten Familien, die voller Scham und Sittsamkeit sind, niemals [in den Bettelorden] aufgenommen werden wollen. Wenn es ihnen jedoch erlaubt wird, ihre Kleidung zu behalten, könnten solche Frauen nur der kleinen Befleckung [d.h. des Makels] des Behaltens von Kleidung schuldig gesprochen werden, aber [zur gleichen Zeit] würde die Tugend des Befolgens der vollständigen Gebote daraus resultieren. Indem der Herr also den relativen Vorteil und den geringen Nachteil des Annehmens von Kleidung gegenüber dem Verwerfen beachtet, hat er Frauen Kleidung vorgeschrieben." [1]

    60. [Digambara:]

    Genau das befürworten auch wir; wir sind in dieser Angelegenheit nicht anderer Meinung als [die Yāpaṇīyas]. Unser Streit dreht sich nur darum, ob Frauen tatsächlich in der Lage sind, mokṣa zu erlangen. Wir behaupten lediglich, dass:

    Ihre moralische Zurückhaltung (śīla) nicht ausreicht, um mokṣa zu erreichen;

    da sie auf Besitz beruht;

    wie auch die moralische Zurückhaltung eines Haushälters.

    Der Herr hat tatsächlich ein [teilweise entsagendes] Verhalten vorgeschrieben, das für Haushälter geeignet ist, nachdem er die relativen Vorteile für sie, die sich aus dem [Zulassen bestimmter] Besitztümer ergeben, gegenüber den Nachteilen, überhaupt keine Besitztümer aufzugeben, abgewogen hat. Aber [die teilweise Entsagung des Haushälters] wird nicht als in der Lage angesehen, mokṣa zu erreichen, wie dies auch bei der diskutierten Angelegenheit der Fall ist.[2]

    61. [Yāpaṇīya:]

    Einwand. Die moralische Zurückhaltung des Haushälters ist durch Gewalt befleckt; sie ist daher nicht in der Lage, mokṣa herbeizuführen.[3]

    62. [Digambara:]

    Aber dies gilt gleichermaßen für das Verhalten der Nonne. Ist es nicht so, dass die Zurückhaltung der Nonnen durch Gewalt befleckt ist, da sie, wie die Zurückhaltung des Haushälters, auf der Akzeptanz von Kleidung beruht, die die Wohnstätte von Läusen und ihren Eiern ist? Wenn du behauptest, dass Kleidung, obwohl sie Insekten beherbergt, die durch Feuchtigkeit entstehen, nicht zu Verletzungen führt, dann musst du zugeben, dass [die obligatorische Praxis] des Entfernens der Haare von der Kopfhaut [eines Mönchs, um die Brut von Insekten dort zu verhindern] ebenfalls nicht notwendig ist.

    63. Es wurde auch [vom Yāpaṇīya] behauptet:

    „Da es [bei Nonnen] keine Nachlässigkeit gibt, gibt es auch keinen [Grund für] Gewalttätigkeit und so weiter.“[4] Auch dies ist nicht erfreulich, da Fleiß [d.h. Freiheit von Nachlässigkeit] für [Frauen] nicht möglich ist, da [es die unvermeidliche] Umwandlung der Seele durch die Leidenschaft der Begierde [im Zusammenhang mit dem Tragen von Kleidung] gibt; tatsächlich ist Nachlässigkeit nichts anderes als das Unter-den-Einfluss-Kommen jener [Leidenschaften]. Wie es heißt:

    Müßiges Gerede sowie Leidenschaften, Sinnestätigkeiten, Schlaf und sexuelle Aktivität: jeweils vier, vier, fünf, eins und eins. Dies sind fünfzehn Formen der Nachlässigkeit.[5] [Pancasaṅgraha, i, 15]

    Aus der Tatsache, dass [die Nonnen] absichtlich Kleidung annehmen, kann geschlossen werden, dass sie unter den Einfluss der Leidenschaft der Begierde geraten.

    64. Nun [könnten die Yāpaṇīya behaupten], dass es ihnen, während sie frei von solchen [angeblichen] Wünschen bleiben, immer noch möglich ist, Kleidung nur anzunehmen, um Scham (lajjā) zu vertreiben;[6] es ist daher nicht richtig, daraus zu folgern, dass sie unter den Einfluss der Begierde geraten.

    65. [Digambara:]

    Einwand. Warum sollte man ihnen dann nicht auch erlauben, einen Liebhaber zu haben, um die Qual der Begierde zu bekämpfen, denn es gibt keinen Unterschied [zwischen der Vertreibung von Scham und der Vertreibung sexuellen Verlangens]?[7]

    66. [Yāpaṇīya:]

    Aber wenn solche Qualen vorhanden sind, wären sie nicht frei von Anhaftung; denn [solche Begierde] ist ihrer Freiheit von Verlangen entgegengesetzt.

    67. [Digambara:]

    Dasselbe kann über die Anwesenheit von Scham gesagt werden. Es ist nicht richtig zu sagen, dass Scham mit Freiheit von Verlangen vereinbar ist, denn es liegt in der Natur der Scham, die abscheulichen Teile des Körpers bedecken zu wollen, wenn man von Verlangen erregt wird.[8]

    Eine Person, die frei von Verlangen ist, wird keine Scham empfinden;

    wie ein Kind;

    du betrachtest Nonnen als frei von Verlangen.

    [Da du jedoch behauptest, dass Nonnen Kleidung tragen, um Scham zu vertreiben, können sie nicht frei von Verlangen sein.]

    68. Wenn du [trotzdem] immer noch darauf bestehst, dass für einen Mann seine [Bettel-]Enthaltsamkeit, die aus Nacktheit besteht, ein Mittel ist, um mokṣa zu erlangen, aber im Fall von Frauen diese Enthaltsamkeit mit Kleidung erfolgen muss, dann musst du zugeben, dass dies die unerwünschte Konsequenz hätte, dass [es einen qualitativen] Unterschied zwischen den Arten von mokṣa gäbe, die jede erreicht, weil die Ursachen [die zum Erreichen von mokṣa notwendig sind] [für die beiden Geschlechter] unterschiedlich wären. Diese Zurückhaltung der Bettler [der Nonnen], die sich von einer anderen Art der Zurückhaltung der Bettler [d.h. der der Mönche] unterscheidet, muss eine Wirkung haben, die ebenfalls von deutlich anderer Natur ist. Beispielsweise führt die Zurückhaltung eines Haushälters in den Himmel und so weiter [d.h. Wiedergeburt in guten Wohnstätten], während die Zurückhaltung eines Entsagenden zu mokṣa führt; ihre jeweiligen Ziele sind also völlig verschieden voneinander. Die Zurückhaltung der Bettler, die deiner Meinung nach als Ursache für mokṣa für Mönche dienen soll, unterscheidet sich von der der Nonnen: Letztere verlangt das Tragen von Kleidung, Erstere nicht.

    69. Dennoch weigerst du dich zu akzeptieren, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen dem mokṣa der beiden gibt, da du anerkennst, dass sowohl der Mönch als auch die Nonne dasselbe mokṣa erreichen – nämlich das, welches durch die völlige Zerstörung allen Karmas gekennzeichnet ist. [Das ist sicherlich inkonsistent.]

    70. Wenn man außerdem zugibt, dass die Zurückhaltung des Bettlers, die das Tragen von Kleidung beinhaltet, auch als Ursache für mokṣa dient [wie du behauptest, dass dies bei Frauen der Fall sei], dann hätte es sicherlich keinen Sinn, den obligatorischen Verzicht auf Kleidung [für jene Männer, die] mokṣa erlangen wollen, vorzuschreiben. Aber da es so vorgeschrieben ist, muss davon ausgegangen werden, dass Kleidung mokṣa nicht förderlich ist.[9] Dies kann durch einen Syllogismus gezeigt werden:

    Kleidung ist mokṣa nichzut förderlich;

    weil der Verzicht auf Kleidung für diejenigen, die mokṣa erlangen wollen, obligatorisch ist;

    ebenso sind auch falsche Ansichten [aufzugeben und] können deshalb keine Voraussetzung für mokṣa sein.

    Du gibst zu, dass der Verzicht auf Kleidung für diejenigen [die mokṣa erlangen wollen] als obligatorisch festgelegt ist. Umgekehrt darf das, was mokṣa förderlich ist, nicht aufgegeben werden und ist für diejenigen, die [mokṣa] wünschen, obligatorisch, wie zum Beispiel richtige Ansichten.

    71. Es wurde auch gesagt:

    „Das Argument der [Unfähigkeit der Frau, mokṣa zu erlangen, weil sie] von Männern nicht ehrfürchtig gegrüßt wird, ist nicht anwendbar, wie im Fall der gaṇadharas [die in ähnlicher Weise nicht von den Tīrthaṅkaras gegrüßt werden]. ...“[10] Auch diese Aussage ist irrelevant, da die Arhats [d.h. die Tīrthaṅkaras] jenen äußerst erhabenen Zustand erreicht haben, der als „Erlangen des Körpers eines Tīrthaṅkara“ bekannt ist [der durch verschiedene glückverheißende Zeichen gekennzeichnet ist und von verschiedenen Wundern begleitet wird]; daher ist es nur angemessen, dass sie von allen anderen Menschen [wie den gaṇadharas] ehrfürchtig gegrüßt werden, ohne diese Grüße zu erwidern. Es gibt niemanden auf dieser Welt, dessen Status würdiger ist als ihrer, und daher niemanden, den die Tīrthaṅkaras grüßen dürfen. Andererseits erreichen die gaṇadharas diesen hohen Status nicht, weil ihnen diese Art von [höchstem] Verdienst fehlt; daher haben sie nicht den Status, der es wert ist, von der ganzen Welt ehrfürchtig gegrüßt zu werden, wie es die Tīrthaṅkaras tun. Was die Bedingungen betrifft, die zu mokṣa führen, gibt es jedoch keinerlei Unterschied in der Art des erreichten mokṣa, ob diese Person ein Tīrthaṅkara ist oder nicht. Aber im Fall der Nonnen gibt es einen solchen Unterschied, da sie keine der Ursachen besitzen, die zu mokṣa führen – nämlich die [Vollkommenheit] der Drei Juwelen. 

    72. Daher [schlagen wir den folgenden Syllogismus vor]:

    Frauen erreichen den nirvāṇa-Status nicht;

    weil sie jenes Status nicht würdig sind, der die ehrfürchtigen Grüße von Bettlern, Haushältern und Göttern verdient;

    wie im Fall von Hermaphroditen.

    Es gibt zum Beispiel zwei Status, die der ehrfürchtigen Grüße von Bettlern würdig sind: der primäre und der sekundäre. Im Fall [von Bettlern] ist der primäre Status der der Tīrthaṅkaras, während der sekundäre Status der der ācāryas [Führer des Bettelordens] und so weiter ist [d.h. der Lehrer (upādhyāyas) und anderer Mönche (sādhus)]. Beide Status werden angeblich nur Männern zuerkannt, nicht Frauen. Ebenso gibt es zwei Status – primär und sekundär –, die der Begrüßung durch Haushälter und Götter würdig sind: Der primäre Status ist der der Cakravartins [irdischen Herrscher] und Indras [Könige der Götter]; der sekundäre ist der der Provinzgouverneure und [Götter] von gleichem Rang. Aber selbst diese sind bekanntlich nur Männern vorbehalten, nicht Frauen.

    73. Darüber hinaus liegt die Autorität in jedem einzelnen Haushalt bei Männern und nicht bei Frauen:[11] wie allgemein bekannt ist, ob der Vater lebt oder nicht, in allen Angelegenheiten hat allein die Autorität eines Sohnes Vorrang, selbst wenn er jünger und hässlich ist, und niemals die einer Tochter, selbst wenn sie älter und schön ist. Daher ist es wirklich erstaunlich anzunehmen, dass jene [Frauen], die nicht einmal Autorität über weltliche Geschicke haben, irgendeine Macht über [die überweltlichen] Geschicke von mokṣa haben könnten.

    74. [Yāpaṇīya:]

    Einwand. Wenn Frauen mokṣa nicht erlangen, nur weil sie großen weltlichen Reichtums nicht würdig sind, dann musst du, da es keinen Unterschied in der Logik geben würde, auch zugeben, dass die gaṇadharas und andere Bettler mokṣa nicht erlangen könnten, weil auch sie nicht würdig sind, den großen Ruhm von Tīrthaṅkaraschaft zu erlangen.[12]

     

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    [1] Siehe Saṃvara [Teil 292] Pkt. 34.

    [2] Siehe Saṃvara [Teil 292] Pkt. 34 letzte Zeile.

    [3] Siehe Saṃvara [Teil 293] Pkt. 44.

    [4] Siehe Saṃvara [Teil 292] Pkt. 41.

    [5] Zu den vier Arten von müßiges Geschwätz gehören Gespräche über die Familie und so weiter (usw. = Vikathā (Klatsch, der spirituelle Praktiken behindert) gibt es in vier Arten: (1) Strī-kathā (Klatsch über Frauen), (2) Bhakta-kathā (Klatsch über Essen), (3) Deśa-kathā (Klatsch über das Land) und (4) Rāja-kathā (Klatsch über den König). Für weitere Einzelheiten, siehe Saṃvara [Teil 323] Anmerkung 4). Die vier Leidenschaften sind Zorn, Stolz, Betrug und Habgier. Siehe Gommatasara-Jivakanda, Vers 34.

    [6] Siehe Saṃvara [Teil 292] Pkt. 34. In der Strīnirvāṇaprakaraṇa ist es der Digambara und nicht der Yāpaṇīya, der argumentiert, dass Frauen Kleidung tragen müssen, um die Scham zu vertreiben, und daher ist es nicht zu tadeln, dass der Jina ihnen die Nacktheit verbietet.

    [7] Im entsprechenden Abschnitt des Prameyakamalamarttanda (S. 331-332) zitiert Prabhacandra acht Verse, die die Behauptung der bekleideten Mönche, sie seien trotz des Tragens von Kleidung frei von Begierde (virakta), ins Lächerliche ziehen. Der achte Vers fasst die Digambara-Position zusammen: Nur diejenigen, die durch die von Frauen ausgehenden Leiden gebrochen sind, und diejenigen, die durch Anhaftung an den Körper gebunden sind, nehmen Kleidung an. Damit wird bewiesen, dass sie weder von den inneren noch von den äußeren Bindungen frei sind. (strīpariṣahābhagnais ca baddharagais ca vigrahe, vastram adiyate yasmat siddham granthadvayam tatah.)

    [8] Die Digambaras behaupten, dass Scham (lajjā) eine Tugend für Laien ist (in ihrem Fall die Grundlage für angemessene Bescheidenheit), aber ein Hindernis für diejenigen, die dem höheren Pfad des Bettelordens folgen. Sie sind nicht der Ansicht, dass Nacktheit immer mit Lustfreiheit verbunden ist, sondern behaupten nur, dass das Tragen von Kleidung immer auf das Vorhandensein von Lust hinweist. Diejenigen, denen öffentliche Nacktheit unangenehm ist, könnten daher argumentieren, dass der Bettler seine Kleidung behalten sollte, bis er frei von jeglichem Verlangen ist (d.h. bis er tatsächlich vitarāga im zwölften guṇasthāna wird), da der äußere Akt des Nacktseins selbst nicht frei von innerem Verlangen macht. Die Digambaras würden antworten, dass das Ablegen der Kleidung zwar nicht gleichbedeutend mit dem Aufgeben der Scham ist (letzteres beinhaltet die Auslöschung der Libido selbst), dass aber das Gelübde der Nacktheit in den Anfangsstadien des Bettelordens dennoch wichtig ist, da es auf einen völligen Verzicht auf das häusliche Leben und seine weltlichen Besitztümer hinausläuft. (Auch um sich selbst zu erforschen und immer besser kontrollieren zu können, bis das Verlangen nicht nur Verdrängt, sondern ganz besiegt worden ist. Man ist mit Nacktheit in jeder Situation bewusst, wenn die Libido sich bemerkbar macht, während im bekleideten Zustand wird diese Vibration zwischen Libido und Sieg darüber nur dauernd verdrängt und der entscheidende Punk, vitarāga zu erlangen, auf immer später, meistens bis zum Tod verschoben. AΩ)

    [9] Siehe Saṃvara [Teil 294] Pkt. 48.

    [10] Siehe Saṃvara [Teil 297] Pkt. 64-66.

    [11] Siehe Saṃvara [Teil 298] Pkt. 73.

    [12] Siehe Saṃvara [Teil 297] Pkt. 69.

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